Estland
Einige Fakten
Estland mit seiner Hauptstadt Tallin ist der nördlichste der drei Staaten des Baltikums. Mit seinen rund 1500 Inseln unterschiedlicher Größe, die zusammen die Fläche von 45215 km² ergeben, hat das kleine Land eine beachtliche Küstenlinie von mehr als 3500 Kilometern. Mit einer Fläche von 45.339 km² so große wie die Schweiz liegt die Zahl der Einwohner bei nur etwa 1,3 Millionen. Von ihnen leben rund 400.000 in der Hauptstadt Tallinn, 100.000 in der zweitgrößten und aufstrebenden Stadt Tartu, rund 300.000 in zwölf weiteren Städten.
Während in Deutschland 235 Einwohner je km² leben oder in den Niederlanden 507 nahm die Bevölkerungsdichte Estlands in den vergangenen Jahrzehnten noch weiter leicht ab auf heute rund 30 Einwohnern je km². Neben einer niedrigen Geburtenrate trug bis etwa 2015 die Auswanderung gerade junger Menschen zum Rückgang der Bevölkerung bei. Obwohl sich das Verhältnis von Ein- und Auswanderung in jüngster Zeit wieder umgekehrt hat herrscht insbesondere unter den 500.000 Esten die auf dem Land leben Überalterung. Und viele Branchen sind von Arbeitskräftemangel betroffen.
Die geschichtlichen Wurzeln Estlands sind eng mit Finnland verbunden, dem Nachbarn jenseits der Ostsee. Die 80 Kilometer zwischen Tallin und Helsinki legt die Fähre heute in wenigen Stunden zurück. Die Verwandtschaft findet in der Ähnlichkeit der estnischen und finnischen Sprache ihren Ausdruck, in den intensiven wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen und in der Migration. Über 50.000 Esten leben heute in Finnland - das sind doppelt so viele wie im gesamten übrigen Europa. Andererseits kommen 40% der ausländischen Touristen aus Finnland. Mancher Este fühlt sich Finnland näher als den baltischen Ländern Lettland und Litauen.
Hingegen ist das Verhältnis mit Russland nicht erst seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Eintritt Estlands in die EU und in die NATO von Spannungen, Misstrauen und Angst geprägt. Das kleine Estland war ebenso wie die anderen Länder des Baltikums von jeher ein Spielball der Großmächte. Längere Phasen in denen die Esten ein selbstbestimmtes Staatswesen hätten aufbauen können gab es praktisch nicht. Zar Alexander III. (1881-1894) russifizierte das Baltikum rigoros um dem zunehmenden nationalen Erwachen der Länder zu begegnen.
Nach einem Intermezzo von 50 Jahren wurde Estland 1940 dann von Russland annektiert, geriet ins Räderwerk des Zweiten Weltkriegs und verlor dabei in Relation zu den Bevölkerungszahlen so viele Menschen wie kaum ein anderes Land: etwa jeder achte Este kam ums Leben und fast die gesamte bürgerliche und intellektuelle Elite des Landes wurde ausgelöscht. Die deutsche Bevölkerung die seit den mittelalterlichen Gründungen des Deutschen Ordens an den Küstenregionen des Baltikums mehr und mehr Fuß gefasst hatte war nach einem Geheimabkommen zwischen Hitler und Stalin schon ab 1939 "heim ins Reich" geholt worden: man hatte ausgehandelt das Baltikum der sowjetischen Interessensphäre zuzuschlagen was die Abkommen zur Neuordnung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg dann auch festschrieben.
So wurde die Sowjetunion bis zu ihrem Zusammenbruch 1991 der bestimmende Faktor. Die Russifizierung des Landes wurde für weitere 50 Jahre vorangetrieben und bestimmt noch heute die Politik, die Gesellschaft und nicht zuletzt die Probleme Estlands. Viele Russen sind nämlich in Estland geblieben wo ihre Familien teilweise schon seit Jahrhunderten lebten. Heute stellen Russen, Weißrussen und Ukrainer insgesamt etwa 25% der Bevölkerung, im Osten des Landes bis zu 90%. Eine Minderheit zwar, aber eine problematische die in einer Art "Paralleluniversum" lebt. Viele der Russen sprechen die Landessprache nicht, die meisten gehören der orthodoxen Kirche an die einen stark konservativen Einfluss auf das gesellschaftlich-politische Handeln ihrer Mitglieder ausübt.
Hingegen sind nur 2% der Esten orthodoxe Christen - die meisten gehören keiner Religion an. Die Mentalität von Esten und Russen ist und bleibt unterschiedlich, die Vergangenheit schürt gegenseitiges Misstrauen. Die Russen fühlen sich diskriminiert und sind es in mancher Hinsicht auch, sie suchen nach einer neuen Identität im Land. Und das wird wohl auch noch über längere Zeit so bleiben da kaum Ehen zwischen estnischen "Bürgern" und russischen "Nichtbürgern" geschlossen werden, wenig Vermischung stattfindet.
Dabei macht neben der naturbelassenen Landschaft gerade die kulturelle Durchmischung estnischer, russischer, deutscher und skandinavischer Einflüsse heute einen der wesentlichen Reize Estlands aus: die baulichen Hinterlassenschaften des Deutschen Ordens und der Hanse, malerische alte Holzhäuser und Landkirchen, traditionelle Saunahütten und Trachten, unzählige Gutshöfe und Herrenhäuser, Windmühlen, verrottende Sowjetpanzer und mit Sillamae eine ganze stalinistische Stadt, Industriedenkmale und Burgruinen, russische Kirchen, Klöster und Kaiserpaläste.
Trotz der langen Zeit in Besatzung und Abhängigkeit hat es der junge Staat nach seiner Entlassung in die Selbständigkeit schnell gelernt sich in der neuen Freiheit zurechtzufinden. Hat da und dort dabei allerdings auch in einer überschießenden Reaktion auf die Zwänge geantwortet denen man in der Vergangenheit unterworfen war. So muss die strikt liberale Wirtschaftsform erst nach und nach den Umgang mit den sozialen Problemen des Landes erlernen und genügend integrative Kraft entwickeln um ein weiteres Auseinanderdriften der Gesellschaft aufzufangen.
Mit großen Schritten ist Estland in das digitale Zeitalter marschiert. Gerade angesichts der geringen Bevölkerungsdichte erstaunt es, dass Estland hier inzwischen die notwendige Infrastruktur bietet und europaweit eine Vorreiterrolle spielt. Selbst viele ältere Menschen auf dem Land haben sich mittlerweile daran gewöhnt, dass sich viele Lebensbereiche nur noch mit Hilfe von Smartphone und App bewältigen lassen. Über 75 Prozent der Esten sind mittlerweile komplett ans Glasfaser-Netz angeschlossen, selbst in Urwäldern wird WiFi verstärkt. Diese Omnipräsenz des Internets wird selbst manchen Esten inzwischen zu viel.
Heute ist der Großraum Tallinn der wirtschaftliche Motor Estlands der mit 40% der Bevölkerung gut 60% des Bruttoinlandsproduktes erwirtschaftet. Der Dienstleistungssektor trägt einschließlich Handel insgesamt hohe 70% zur Wirtschaftsleistung bei, davon der Tourismus vor der Corona-Pandemie mit über 3 Millionen ausländischen Besuchern jährlich rund 1,5 Milliarden US-Dollar. Nur 20% der Arbeitskräfte arbeiten heute noch in der Industrie und 3% in der Landwirtschaft die vorwiegend im Südosten Estlands und fast ausschließlich extensiv betrieben wird.
Estland als Reiseland
Wegen der relativ geringen Schäden die das ehemalige Reval und heutige Tallinn im Zweiten Weltkrieg davongetragen hat ist die Stadt heute eine der schönsten und meistbesuchten an der Ostsee. 1997 wurde die Altstadt von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt, 2011 war Tallinn Kulturhauptstadt was ihr Besucherrekorde einbrachte. Heute wird ihr Hafen von jeder Ostseekreuzfahrt angelaufen und auf keiner Reise ins Baltikum fehlt Tallinn.
Dabei begegnet einem die Stadt erstaunlich jung, modern und digital. Wie auch in den anderen baltischen Staaten ist Bargeld mittlerweile unerwünscht und selbst kleine Beträge wie Parkplatzgebühren werden digital bezahlt. Das sollte Digitalisierungsmuffel aber nicht zurückzuschrecken. Die Esten sind ein liebenswürdiges und überaus hilfsbereites Volk und es findet sich immer ein "guter Geist" der einem in flüssigem Englisch erklärt was zu tun ist.
Estland hat aber sehr viel mehr zu bieten als seine Hauptstadt wie inzwischen auch jede Website betont in der sich das Land vorstellt. Vor allem sind es die großartigen, oft noch ursprünglichen Naturräume die das Land attraktiv machen. Die Esten lieben die Natur, schützen sie besser als viele andere Länder, halten sich gerne unter freiem Himmel auf. Mehr als 2.370 km² der Landesfläche sind als Nationalpark ausgewiesen, sehr umfangreiche Flächen zudem als Naturschutz- und Landschaftsschutzgebiete oder Regionalparks. Wandern ist Volkssport und dem wird Rechnung getragen: in Sumpfgebieten und Mooren sind hunderte von Kilometern mit Holzbohlenwegen und Aussichtstürmen zugänglich gemacht die gut erhalten und viel besucht werden. Das kommt auch den Touristen zugute der ohne diese Wegeinfrastruktur kaum eine Möglichkeit hätten die riesigen Moore, Feuchtgebiete und andere ursprüngliche Naturräume des Landes kennenzulernen.
Die touristische Infrastruktur hat sich dem Naturtourismus angepasst. An Wanderrouten sind da und dort Hinweisschilder zu finden, am Straßenrand wird auf viele der Sehenswürdigkeiten hingewiesen, nicht nur an der Ostseeküste entstehen immer mehr Camping- und Stellplätze, nette Holzhütten die zur Vermietung stehen und Gaststätten. Zunehmend werden auch geführte Wanderungen angeboten und Boote verliehen. Als Individualreisender sollte man größere Touren gut planen, angemessene Kleidung, ausreichend Verpflegung und Wasser mitführen. Wer das Land "so richtig" kennenlernen möchte sollte ein Paar Gummistiefel im Gepäck haben! Außerdem bei jeder Unternehmung ein Smartphone mit ausreichend Batterieleistung das einem auf rund 85% der Fläche Estlands hilft den Standort und Rückweg zu bestimmen.
Die Verkehrsinfrastruktur spiegelt die dünne Besiedelung mit vielen Einödhöfen und verstreuten Siedlungen wider. Das gesamte Straßennetz umfasste 60.000 Kilometer, davon rund 11.000 Kilometer asphaltierte Straßen. Abgesehen von der Zeit der Frühjahrshochwässer die viele der kleinen Straßen überschwemmen sind die allermeisten Schotterstraßen auch mit Wohnmobilen problemfrei zu befahren zumal sie kaum Steigungen aufweisen. Fahrverbote gibt es außerhalb der Städte wegen der sehr geringen Verkehrsdichte kaum.
Der öffentliche Personenverkehr ist in den dichter besiedelten Regionen zwar passabel und es werden Überlandverbindungen angeboten. Viele ländliche Regionen sind aber kaum erreichbar. Das Verkehrsmittel der Wahl ist für den Esten nach wie vor das Auto. Versuche ihn durch Gratis-Nahverkehr zum Umsteigen auf öffentliche Verkehrsmittel zu bewegen wurden nach mehrjährigen Versuchen 2021 für gescheitert erklärt: Zu ineffizient, zu teuer. Jetzt denkt man über den Einsatz von Dorftaxis nach um das Angebot flexibler und kosteneffizienter zu machen.
Hat man ausreichend Zeit zur Verfügung so bietet sich das Rad als Verkehrsmittel an. Die zumeist flachen Strecken sind wenig kräftezehrend, zumal wenn man mit E-Bike unterwegs ist. Allerdings gibt es mehr öffentliche Landestationen für Elektroautos als für E-Bikes. Verfügt man über keine autarke Lademöglichkeit so ist man auf die Stromversorgung an einem der rund 60 Campingplätze und etwa ebenso vielen offiziellen Stellplätzen in Estland angewiesen. Alternativ bittet man an einem Gästehaus um Strom der einem gegen ein kleines Entgelt zumeist gerne zur Verfügung gestellt wird. Die Esten nehmen die Touristen in ihrem Land überaus freundlich auf und die allermeisten sind hilfsbereit wo immer sie können.
Gleichviel ob man mit Zelt, Wohnwagen oder Wohnmobil unterwegs ist: in Estland gilt das "Jedermannsrecht" wonach man auf nicht bewirtschaftetem Land übernachten und Früchte ernten darf. Dabei ist der Lebensraum von Wildtieren zu achten und Geschirr und Wäsche dürfen nur an Land gewaschen werden um die Wässer nicht zu verschmutzen - was sich von selbst verstehen sollte. Da die meisten Flächen unbewirtschaftet und eben sind gibt es unzählige geeignete Plätze. Außerhalb der Städte muss man höchstens ein paar Kilometer fahren um einen zu finden. Bei der Wahl ist allerdings zu beachten, dass der Untergrund ausreichend fest ist und man nicht am nächsten Tag abgeschleppt werden muss.
Obwohl die Dichte von Wildtieren in Estland hoch ist braucht man vor einer Begegnung mit Bären oder Wölfen keine Angst zu haben. Sie sind sehr scheu und man sieht bestenfalls mal die Pobacken eines flüchtenden Elchs - was man hingegen sicher sieht sind Störche. Mücken und Bremsen sind an der Küste wegen einer ständigen Brise eher selten, im wasserreichen Inland werden sie während des Hochsommers aber zur Plage. Will man ihnen aus dem Weg gehen ist die beste Reisezeit das Frühjahr. Zu stechen fangen sie nämlich erst im Juni an. Zu dieser Zeit sollte man sich allerdings versichern welche Campingplätze schon geöffnet haben.
Hydrogeologie und Estlands Wasser
Fast die Hälfte Estlands sitzt auf einem mächtigen Kalksteinsockel mit einem Alter von 400 bis 500 Millionen Jahren. Der kristalline Untergrund besteht aus Gesteinen, deren Oberfläche glattgeschliffen und mit 10-15 Grad nach Süden geneigt ist. Als weitere Gesteine bestimmen wenig durchlässige Schichten aus feinkörnigem Buntsandstein, Lehm und Schiefer die Hydrogeologie Estlands sowie Geröll, Sedimente und zahlreiche Findlinge als Hinterlassenschaft der eiszeitlichen Gletscher. Eine Besonderheit ist der "brennende Stein", ein hochwertiger Ölschiefer der in der Vergangenheit einen nennenswerten Anteil an der Energieversorgung Estlands hatte.
Karstbildung hat an den Kalksteinschichten des Baltikums zwar stattgefunden sie ist aber deutlich weniger ausgeprägt als an den gefalteten und stark gealterten Karstgebieten des Balkans oder den mitteleuropäischen Juragebieten - und unter der geschlossenen Bodendecke wenig sichtbar. Der baltische Kalkstein birgt vergleichsweise flache, ausgedehnte Grundwasserleiter die sich selten über mehrere Stockwerke erstrecken und sich an der Oberfläche nur an wenigen Stellen durch Höhlen erschließen. Den Charakter des baltischen Karstes zeigt besonders schön der Geolehrpfad Tuhala mit seiner launischen Hexenquelle die sich nur alle paar Jahre bequemt ihre kleine Fontäne an die Oberfläche zu schicken.
An den nordestnischen Kalksteinklippen die bei Ontika eine Höhe von über 50 Metern erreichen ist der Kalkstein aufgeschlossen. Hier stürzen 35 zumeist kleinere Wasserfälle zur Ostsee hinab, der höchste von ihnen mit 26 Metern der Valaste Fall im Kreis Ida-Viru. Die Klippen sind Teil des 1200 Kilometer langen Baltischen Klints (auch Glint) der sich von Schweden bis nach Russland erstreckt. Die Verwendung dieses "nordischen Marmors" als Baumaterial hat eine über 2000 Jahre alte Tradition. Viele der Schlösser, Herrenhäuser und nicht zuletzt große Teile der Altstadt Tallinns sind aus estnischem Kalkgestein erbaut. Sogar bis nach Russland wurde er exportiert.
Ein besonderes Merkmal Estlands ist die geringe durchschnittliche Höhe von rund 50 Metern. 90% der Fläche liegt unter 100 Metern wobei das Land doch von einige Höhenzügen durchzogen ist. Ebenso wie die zahlreichen in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Urstromtäler - beispielsweise der Flüsse Ahja, Kavilda, Vanajögi oder Piusa - entstanden sie während der Eiszeit im Pleistozän vor etwa 20.000 Jahren. Das Land senkte sich unter den bis zu 3000 Metern mächtigen Eismassen und hebt sich seit dem Abschmelzen der Gletscher wieder an, in Estland um jährlich etwa 1,5 Millimeter.
Moore
In vielen der von Gletschern geschliffenen Ebenen des Baltikums haben sich auf dichtenden Schichten ausgedehnten Moore und Feuchtflächen entwickelt. Im estnischen Nationalpark Soomaa östlich von Pärnu kann sich in der "fünften Jahreszeit" während der Schneeschmelz auf einem Gebiet von Mooren, Sümpfen, Auen und Wäldern eine Überschwemmungsfläche von mehr als 140 km² bilden.
Trotz wachsender Bedrohung durch Torfabbau, Besiedelung und Infrastrukturmaßnahmen sind viele der Moorlandschaften des Baltikums noch intakt. Allein in Estland gibt es 9836 Moore die zusammen rund ein Fünftel der Landesfläche ausmachen und das Landschaftsbild in vielen Gegenden prägen. Sie bilden einmalige Ökosysteme und hervorragende Speicher für Wasser und Kohledioxid - gleichviel ob es sich um Hochmoore, Niedermoore oder Übergangsmoore handelt.
Auf ebenen Flächen (Niederung von Pärnu und Haapsalu) herrschen Hochmoore vor die ausschließlich aus Regenwasser gespeist werden und daher sauer und nährstoffarm sind. In Regionen mit zergliedertem Relief (Höhen um Haanja und Otepää) dominieren Niedermoore deren Torfschichten mehr als 15 Meter mächtig sein können. Viele der feuchten Wiesen sind anmoorig und können landwirtschaftlich allenfalls extensiv genutzt werden. Aufgrund ihrer Fähigkeit tierische und pflanzliche Reste und Pollen einzuschließen und zu konservieren sind diese Moore für die Wissenschaft ein hervorragendes Archiv zu Umwelteinflüssen und Klimaveränderungen in den letzten Jahrtausenden.
Flüsse und Seen
Wegen der großen Moorflächen ist das Wasser vieler Bäche, Flüsse und Seen im gesamten Baltikum von Huminstoffen in einem rötlichen Braunton gefärbt. Da zudem die Betten der Gewässer häufig mit dunklen Sedimenten bedeckt sind erscheinen viele recht dunkel - wenn die Tage im Herbst kürzer werden und Nebel aufsteigen mitunter auch geheimnisvoll und düster. Der Eindruck soll aber nicht trügen: Estlands Gewässer gehören zu den saubersten in ganz Europa und sind ökologisch überwiegend noch intakt.
Wegen der geringen Höhenunterschiede dümpeln die Flüsse mancherorts recht träge dahin und bilden in kalten Wintern ebenso wie Seen und Moore Eisdecken die bald von Schnee bedeckt sind und erst mit dem beginnenden Frühling wieder abschmelzen. Wenn die Sonne im Sommer hochsteht und die Tage lang sind bilden die dunklen Wasseroberflächen die Landschaft und den Himmel darüber dann in großartigen Spiegelungen ab wie man sie bei hellen und glasklaren Karstwässern nur selten in solcher Brillanz findet.
Die etwa 1.500 Seen Estlands bedecken fast 6% der Landfläche. Der größte ist der Peipussee der mit 1.570 km² zugleich der fünftgrößte in Europa ist und er bildet über mehr als 120 Kilometer die Grenze zu Russland. An seinem Ufer leben altorthodoxe Gläubige in ihren traditionellen russischen Dorfgemeinschaften. An seinen Ufern liegt aber auch der mit 30 Kilometern längste Sandstraße Estlands. Eine weitere Berühmtheit ist einer der kleinsten Seen Estlands: der Kaali-See auf der wunderschönen Insel Saaremaa der mit seinem Wasser einen kreisrunden Meteoritenkrater füllt.
Die Flüsse Estlands sind mit höchstens 162 Kilometern (Vohandu) kurz. Rund 200 Flüsse soll es geben die natürlichen Quellen entspringen und oft über lange Strecken bezaubernde Mäander in die Landschaft legen. Wegen der großen Ebenen entwässern sie teilweise riesige Gebiete. Die nur 77 Kilometer lange Narwa etwa, die zwischen ihrem Ursprung im Peipusee und ihrer Mündung in den Finnischen Meerbusen nur 30 Höhenmeter zurücklegt soll angeblich eine Fläche von 56.200 km² entwässern. Damit wäre ihr Einzugsgebiet doppelt so groß wie das des 517 Kilometer langen Inns.
Auf vielen der Gewässer werden Boote verliehen. Kanufahrten auf den mäandernden Flüssen die sich teilweise erstaunlich tief in die Landschaft gegraben und dabei herrliche Gesteinsschichtungen aufgeschlossen haben bieten wunderschöne Natureindrücke und oft die einzige Möglichkeit in die wilde Natur mit ihren sumpfigen und verfilzten Wäldern einzudringen. Im Vergleich zu den reißenden Bergflüssen der Alpen oder des Balkans sind die Bootstouren eher ein harmloses Vergnügen - zumindest so lange nicht umgestürzte Bäume oder angestautes Holz die Fahrt gefährden.
Quellen
Durch die Naturverbundenheit seiner Bewohner in Kombination mit ihren digitalen Fähigkeiten hat Estland mit seinen nur 1,3 Millionen Einwohnern ein Projekt auf den Weg gebracht, wie man in Europa sonst vergeblich sucht: ein Monitoring zur digitalen Erfassung der Quellen des Landes mit wissenschaftlicher Begleitung und breiter Unterstützung verschiedener Institutionen dem sich auch der Nachbar Litauen angeschlossen hat. Alleine für Estland haben die überwiegend ehrenamtlichen Mitarbeiter inzwischen fast 1500 Quelle erfasst, rund 130 davon artesische.
Und die Quellen sind wahrhaft ein Schatz des Baltikums. Viele von ihnen sind Karstquellen, teils herrliche Limnokrenen mit türkis schimmerndem Wasser und kleinen Sandvulkanen, wie die bekannten und glücklicherweise gut zugänglichen Quellen bei Norra und Saula. Andere haben einen artesischen Ursprung und außerordentlich reines Wasser das aus tiefen Schichten stammt.
An manchen Quellen steht das artesische Wasser in der Tiefe so unter Spannung, dass es an der Oberfläche mit einer kleinen Fontäne austritt. Manch eine dieser artesischen Quellen dürfte schon in grauer Vorzeit als Kultort, als Heilige Quelle, als heilende Quelle genutzt worden sein - worüber allerdings nur in seltenen Fällen Überlieferungen erhalten sind. Andere Quellen entspringen aus farbigen Sandsteinklüften oder sie sprudeln idyllisch unter vermoosten Steinen hervor.
Viele der Quellen haben sich in den ausgedehnten Sümpfen und Wäldern versteckt so dass sie nicht einmal für den Elch zugänglich sein dürften. Mit bis zu 2,3 Metern Schulterhöhe und spreizbaren Hufen die mit Schwimmhäuten versehen sind ist er die Majestät dieser Sumpfgebiete und der einzige Hirsch der auch unter Wasser äsen kann. Seinen schwer zugänglichen Lebensraum teilt er sich mit Wölfen und Bären, Fressfeinden zwar denen er mit seinen langen Beinen aber zumeist entkommt.
Mineral- und Thermalquellen sind im gesamten Baltikum hingegen relativ selten. In estnischen Värska am südwestlichen Ende des Peipussees wird in einem Heilbad mit dem Wasser der Värska-Quelle und Heilschlamm kuriert, in einer der litauischen Memelschleifen im Ort Birstonas mit Sole aus neu Quellen, südöstlich von Riga wurden zu Anfang des 19. Jahrhunderts Schwefelquellen entdeckt die Jurmala zu einem mondänen Kurort machten. Sucht man nach Thermalquelle so wird das Angebot noch dürftiger. Man findet sie zwar auf dieser und jener Website erwähnt landet bei weiteren Recherchen dann aber bei einer beliebigen Wellness-Oase - von Thermalwasser keine Spur.
Doch alleine die "normale" Kaltwasserquellen machen Estland zu einem Eldorado für Menschen die neugierig auf Quellen sind und sich an ihnen erfreuen können. Nur bitte nicht zu neugierig sein und sich auf Abenteuer einlassen: die Wildnis Estlands ist einzigartig und wunderschön, sie steckt aber auch voller Tücken. Wie gut ist es da, dass viele der schönsten Quellen zugänglich gemacht wurden.
Weiterführende Informationen und Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Estland
https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Estlands
https://www.deutschlandfunk.de/estland-zwischen-digitaler-moderne-und-sowjetvergangenheit-100.html
https://wiki.edu.vn/wiki16/2021/01/19/schutzgebiete-estlands-wikipedia/
https://www.eurotopics.net/de/258118/gratis-nahverkehr-in-estland-ernuechternde-bilanz
https://mdz-moskau.eu/die-offene-wunde-estland-und-seine-russische-minderheit/
https://www.baltikumreisen.de/infos-zum-baltikum/oelschiefer-in-estland/